Die Fahnenflüchtigen von Obersetzen

Es war ein Jahr vor Beginn des ersten Weltkrieges, also im Jahre 1913, wo auf den Bergen überall Feuer angezündet wurden. Die Feuer sollten daran erinnern, dass Napoleons Herrschaft vor 100 Jahren beendet worden war. Auch im Siegerland brannten viele solcher Feuer. In dem kleinen Örtchen Obersetzen leuchteten auch bei Dunkelheit die Flammen auf der Bergeshöhe.

Obersetzen war 1913 ein kleines Dörfchen und hatte 310 Einwohner. Weder Wasserleitung noch Gasanschluss waren

Napoleon im Arbeitszimmer mit Hand in der Weste (Gemälde von Jacques-Lois David, 1812)

vorhanden. Es lag abseits der Heerstraße und kein Omnibus oder Straßenbahn durchquerten den idyllischen Ort. Es lag versteckt hinter den Bergen in einem stillen Winkel, nur mutige Wanderburschen lernten das saubere Dörfchen und seine Bewohner kennen. Bis zur kommunalen Neugliederung im Jahr 1966 gehörte der Ort zum Amt Netphen und wurde am 1. Juli 1966 ein Stadtteil der neuen Stadt Hüttental. Seit dem 1. Januar 1975 gehört Obersetzen zu Siegen.

Dabei machte man sich Gedanken, was sich seinerzeit hier abgespielt hatte und wie es ausgesehen hatte. Einige Soldaten aus dem Krieg 1870/71 berichteten ihre Erlebnisse, aber auch was sich im Dorf zu ihrer Lebzeit und davor ereignet hatte. Da kam bei vielen die Erzählung von Siebels Patte wieder in Erinnerung, die sich vor 100 Jahren in Obersetzen ereignet haben sollte. Siebel war ein etwas verwachsener, treuherziger und glaubwürdiger alter Mann, der längst unter dem Rasen ruhte.

Die Geschichte begann folgendermaßen: „Als Napoleon der 1. den Angriff auf Russland vorbereitete mussten auch Siegerländer dem Stellungsbefehl Folge leisten. Sie sollten sich in der Hauptstadt des Großherzogtums Bergen, wo auch das Siegerland zugehörte, melden. So machten sich auch Stutte und Siebel aus Obersetzen 1813 auf den Weg Richtung

Völkerschlachtdenkmal in Leipzig mit Spiegelung im vorgelagerten “See der Tränen um die gefallenen Soldaten” (Bild von Steffen Guenther)

Westen nach Düsseldorf.“ Siebel sagte: „Was Gutes wird der Großherzog nicht vorhaben. Napoleon wollte gegen Russland ziehen und die wehrfähigen Männer seiner Nebenländer mit in den Krieg nehmen.“ „Napoleon würde wohl nicht so dumm sein und sein Heer in das weite Eisland führen, das kaum ein Mensch kannte“, antwortete Stutte.

Hören und sehen verging den beiden als sie so viele Menschen in Düsseldorf sahen. Sie fragten nach der Kaserne, wo sie in das Heer eingegliedert werden sollten. Sie bekamen keinen Bescheid wohin die Reise ging. Alle Leute sprachen in der Stadt vom Krieg gegen Russland. ,,Itz awer ab durch de Hembern,“ flüsterte Stutte seinem Freund zu. Sie entfernten sich und eilten durch das Gebirge der Heimat zu. Übrigens gab es viele Deserteure zu jener Zeit. Am übernächsten Tag gelangten sie über den Haardter Berg spät abends in ihr Dörfchen. Eine Nacht blieben sie, nachdem sie beraten hatten, wo sich verstecken könnten.

Die vom Heimatverein Setzen neu restaurierte Kapellenschule toll in Szene gesetzt und fotografiert von Torsten Frisch

Noch bei Dunkelheit in aller Frühe brachen sie am anderen Morgen, jeder mit einem Sack voll Esswaren und Geräten auf. Sie schlichen ganz leise und unbeobachtet aus dem Dorf. Sie gingen auf die Kuhställe zu, dann durch ganz dichtes Gestrüpp in die Fuchsesdelle, wo sie ihre Säcke abstellten. In einem ganz versteckten Schürfloch richteten sie sich soweit wie möglich wohnlich ein. Nur bei Dunkelheit ließen sie sich vom Hirte Michael alles Mögliche bringen. Nur er kannte dieses hervorragende Versteck der beiden Fahnenflüchtigen. Er brachte ihnen jeden zweiten Tag über einen anderen Weg etwas zu essen. Aber auch Neuigkeiten aus dem Dorf und vom Weltgeschehen übermittelte er ihnen. Er wusste nicht viel, aber dass Napoleons

Briefmarke aus Weißrussland aus dem Jahr 2012 zum Gedenken an die Ereignisse von 1812 mit Napoleon (Bild von Wolfgang Rammacher)

Riesenheer den Weg nach Russland angetreten hatte.

Eines Abends erschien Michael schon sehr früh bei den beiden und sprach: „Versteckt euch gut sie suchen euch nämlich. Als die vier Häscher die Ausreißer in Obersetzen nicht trafen, stachen sie mit ihren Bajonetten ins Heu und schoben eure Eltern im ganzen Haus vor sich her. Sie brachten das ganze Dorf in Unruhe. Schließlich schossen sie ins Stroh und wollten die Eltern der beiden Fahnenflüchtigen erschießen. Eure Eltern wurden anschließend schleunigst in Sicherheit gebracht.“

Den Bericht vom Hirten hörten die beiden wutbebend an. Als sie aber hörten, dass die Schlimmsten zwei dieser Menschenschinder über den Berg nach Kredenbach wollten, um hier einen Flüchtigen zu suchen, beschlossen Stutte und Siebel die beiden Haudegen zu beseitigen. Als der Hirte weg war, nahmen sie Säbel und Gewehr und eilten

Offiziere der Leichten Infanterie 1813 im grauen Mantel (Bild von Antoine Charles Horace Vernet)

durch das enge Gesträuch auf die Höhe, von wo man das Ferndorftal sehen konnte. Hier schlichen sie sich, wo sie bestens Bescheid wussten, auf den Pfad der von Obersetzen nach Kredenbach führte und warteten auf die französischen Häscher.

Die zwei französischen Menschenschinder waren nie in Kredenbach angekommen. Noch vor fünfzig Jahren standen zwei Fichten nebeneinander auf der Kredenbacher Höhe. Dieses musste 1885 gewesen sein, denn dieser Bericht wurde 1935 erstellt. Die Leute sagten, ein Franzosengrab würden die zwei Fichten bedecken. Es wurde geforscht und geforscht aber man fand keine Spur von den beiden Franzosen, aber auch nicht von Stutte und Siebel, die in ihrer Höhle weiter hausten und sich über den Untergang des Franzosenheeres von Hirten berichten ließen.“

Übrigens war 1813 ein ganz verheerendes kriegerisches Jahr, was man auch im Siegerland überall zu spüren bekam. Denken wir nur an die Völkerschlacht bei Leipzig, wo über 90 000 Soldaten und unzählige zivile Opfer innerhalb von nur vier Tagen starben. Es waren vier Tage, die die

Völkerschlacht bei Leipzig (Gemälde von Wladimir Moschkow, 1815)

Welt erschütterten und die bisher größte Schlacht der Menschheitsgeschichte. Zunächst waren in diesem Jahr viele Franzosen im Siegerland, die große Unruhe in die Bevölkerung brachten. Dann kamen tausende Russen und Kosakenheere, die im Siegerland übernachteten und sich einquartierten. Und immer wieder kamen neue Soldaten und suchten Quartier und mussten verpflegt werden. Ja es war schon eine undurchdringliche Zeit.

Die Erzählung von Siebels Patte ging folgendermaßen weiter: „Wenn auch die Zeit der Franzosen langsam im Siegerland zu Ende ging, hatte Napoleoum oder besser gesagt seine Leute immer noch die Spürnasen im Lande.“ Der Hirte Michael hatte eines Tages in Buschhütten mehr getrunken als er vertragen konnte. Er wurde redselig und sagte immer: „Ech weiß noch wat.“ Nach langem hin und her gab der Hirte endlich Auskunft über die beiden Obersetzer. Da merkte er was er

Frühere Kapellenschule von Kredenbach steht im alten Ortskern (Bild aus Wikipedia)

angerichtet hatte, aber es war zu spät.

Kurz darauf kam aber die erfreuliche Nachricht für die Preußen, dass die Franzosen unser Heimatland verlassen hatten. Nach langer Zeit wagten sich Stutte und Siebel auch wieder in ihr Dorf. Sie sind dann mit vielen anderen Siegerländern bis ins Franzosenland gegen Napoleon gezogen. Dort hatten sie tapfer gegen die Franzosen gekämpft. Es konnte niemand sagen, sie hätten sich aus Angst vor dem Kriege so lange in ihrem Versteck gehalten.

 

 

 

Literaturhinweis:
www.rowohlt.de: Völkerschlacht 1813
Dr. Lothar Irle: Fahnenflucht
Wikipedia: Obersetzen
Hermann Engelbert: Hinterhüttische Chronik
Stephanie Reekers: Die Gebietsentwicklung der Kreise …
Otto Schaefer: Der Kreis Siegen

 

 

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Fahnenflucht