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Die einst bedeutende Siegerländer Lederindustrie
Mit Abbruch der Lederwerke in Hilchenbach, im Jahre 1993, wurde das letzte Domizil der einst so bedeutenden Siegerländer Lederindustrie verabschiedet. Der Gerber, der das Berufsbild unserer Heimat, des Siegerlandes, über Jahrhunderte mit geprägt hat und somit für den Lebensunterhalt über viele Generationen beigetragen hat, ist damit hier nahezu verschwunden. Nur im Netpher Ortsteil Eschenbach existiert noch eine kleine Gerberei. Aber überall findet man noch Namen die auf die mächtigen Gerbereien der Vergangenheit hinweisen.
Von allen Gegenden Deutschlands, die bereits im Mittelalter den Gerbern eine Heimstätte gewährten und über Jahrhunderte blühende Gerberzünfte aufwiesen, nimmt das Siegerland eine Spitzenstellung ein. Bereits 1311 taucht in einer Urkunde die älteste Lohmühle in Siegen auf. Die Gerber wohnten bis zum 16. Jahrhundert überall in
Die Haarseite der Felle wird mit einem Haareisen abgeschabt
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der Stadt Siegen verteilt. In dem Lohgraben, es war ein Graben welcher vom Weißbach abgeleitet wurde, spülten sie ihre Häute. In jener Zeit erhielt in Siegen das Wetzlarer Tor den Namen Löhrtor und die dahin führende Straße, in die nun die Gerber gezogen waren, den Namen Löhrstraße. (Lohstraße) Die Besitzer legten aber erst im 17. Jahrhundert ihre Lohbäue an den Lohgraben.
Die Häute wurden nach dem Entfernen der Oberhaut (Fell) und der Gewebeschicht mit Gerbmitteln (gemahlene Eichenrinde) längere Zeit in Gruben (Gerbbottige) gelegt. Nun begann die chemische Umwandlung tierischer Häute in Leder. Dies geschah durch Einwirken von Gerbstoffen. Diese setzten das Eiweiß der Häute in haltbare Verbindungen um. Zuvor wurde auf sogenannten Scherböcken die Haarseite der Felle mit stumpfen zweigriffigen Haareisen abgeschabt und an die Filzfabriken verkauft. Beim Abscheren der Hautunterseite benutzten die Gerber scharfe Schereisen. Es waren zweigriffige gebogene „Scherdegen’’, die früher im Zunftwappen der Loher zu sehen waren. Dieser mit Kalkmilch konservierte Abfall wurde als Leimleder an die Leimfabriken verkauft. Die Gerbbottiche, auch Lohkästen genannt, wurden aus dicken Eichenbohlen ohne Nägel hergestellt, denn Lohe und Leder durfte mit Eisen nicht in Verbindung kommen. Die Kästen ließ man im Freien oder im überdachten Grubenhof in Erdgruben ein. Ihre Anzahl bestimmte einst die Größe und den Besitzstand des Gerbereibetriebes.
Grundlage der Siegerländer Gerbereien war von jeher der Lohbestand der Hauberge. Lohe ist die gemahlene Rinde junger Eichenstämme und der ideale Gerbstoff. Es gab seinerzeit kein Produkt, bei dem das Verhältnis der Schwell- und Tanninstoffe zum Gerben so günstig war wie hierbei. Aus der wohl einmaligen Haubergswirtschaft im
Die Hautunterseite der Felle wird mit scharfen Scherdegen abgeschert
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Siegerland kam nicht nur die Holzkohle für die Hüttenfeuer, sondern auch die Eichenrinde für die Gerbereien, was beides unersetzlich war. Die Zunft der Gerber und Schuhmacher hatte 1455 in Siegen 31 Mitglieder und 1483 schon 47. Nur sie besaßen von allen Siegerländer Zünften seinerzeit ein eigenes Haus, es war die Gaffel. Daran kann man sehen, welche enorme Bedeutung die Gerber hatten.
Graf Johann gab 1504 der Siegener Loherzunft einen interessanten Kurbrief, es heißt u. a. ,,Wir wullen, das die Loer in unserer Stait Siegen gut gair Leder machen sullen ....,“ hieraus geht hervor, dass sie für den eigenen Gebrauch im Siegerland und die Fürsten arbeiteten. Später produzierten sie dagegen viel mehr und zwar für den offenen Markt. Die Messen in Frankfurt a. M. waren nun ein besonderes Absatzgebiet.
Mit allen Mitteln versuchten sich die Gerber der Stadt Siegen gegen die Ausbreitung ihres Gewerbes aufs Land zu wehren. Man hatte erkannt, dass die Gerberei ein sehr lukratives Geschäft war. Sie breitete sich aber aufs ganze Siegerland aus und führte zu erbitterten und harten Kämpfen über viele Jahre. Die Siegener lagen besonders mit den Hilchenbachern und Freudenbergern im Clinch, wo weitere Mittelpunkte der Lederherstellung entstanden waren. Der Streit wurde 1684 vom Fürsten Wilhelm Moritz beendet. Die Streitparteien wurden zu einer besonderen Zunft, mit neutralen Sitz in Ferndorf, zusammen geschlossen.
Durch eine neue Forstverordnung des Fürsten Friedrich Wilhelm Adolf wurden 1711 die Haubergskulturen im Siegerland
In den Boden eingelassener Lohkasten, in dem die Gerber die Tierhaut- und Lohschichten festtraten
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aufgewertet. So wurde neben der Holzkohle auch die Gerberlohe (Eichenrinde) als wichtiger Bestandteil festgeschrieben. Wenn es zunächst auch noch bei Kleinbetrieben blieb, so erlebten die Gerbereien hierdurch doch einen gewaltigen Aufschwung. Die Betriebe entwickelten sich sogar rascher als die Schälwaldwirtschaft, wie man aus ihrer Sicht die Haubergswirtschaft nannte, da sie ja nichts anderes als die geschälte Rinde von jungen Eichenbäumen benötigten. Hierdurch entstand eine enorme Lohteuerung und es gab einen langjährigen Kampf um das Vorkaufsrecht der Lohe zwischen der Dillenburger und Siegerländer Loherzunft. Die gemeinsame Regierung in Dillenburg, die sehr viele Eingaben von beiden Parteien erhielt, konnte keine Einigung erreichen und gab 1787 den Lohbestand frei. Entgegen allen Voraussagen konnte diese freiheitliche Verordnung den Gerbereien keinen Einhalt bieten. 1791 hatte das Siegerland 69 Gerbereien. Hiervon waren im Amt Netphen 4, Amt Hilchenbach 11, Amt Freudenberg 15 und in der Stadt Siegen 25 zu Hause. In den meisten Gerbereien waren im 18. Jahrhundert der Meister mit seinen Söhnen und zwei bis vier Knechte beschäftigt.
Einen gewaltigen Einbruch gab es allerdings durch die französische Fremdherrschaft. Ja, wenn das Vaterland leidet, so leiden alle seine Bürger mit ihm. Nicht nur im Gemüt, sondern auch im Handel und Wandel. Das bis dahin so blühende Gerberhandwerk kam fast zum Erliegen, auch die Haubergswirtschaft litt hierunter sehr. So
Trockenraum einer Gerberei
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kostete 1807 die Lohe, nach einer Gewichtseinheit von 110 Pfund, gerade noch 20 Sgr.
Durch den preußischen Zolltarif vom 26. Mai 1818 (Schutz gegen Ausländische Mitbewerber) und nach der Gründung des Zollvereins am 1. Januar 1834 ging es rasch wieder aufwärts. Allein in Hillnhütten, der Ort ist 1901 auf eigenen Wunsch nach Dahlbruch eingemeindet, wurden von 1828 bis 1832 bei etwa 125 Einwohnern drei Gerbereien neu eingerichtet. Im Jahre 1852 sind im Siegerland 88.000 rohe Häute, meist importierte Wildhäute, zu Sohlleder verarbeitet worden. Es war 10mal so viele wie 1818. Nun begann für die heimische Lederindustrie ein unvorstellbarer Aufschwung. 1864 wurden bereits 100.000 Felle verarbeitet. Die Zahl stieg von Jahr zu Jahr mit einer Ausnahme von 1870. Sie erlangte 1891 den Höhepunkt mit 156.000 Häuten, es waren meistens importierte Wildhäute, die in den Gerbereien zu Sohlleder verarbeitet wurden. Zu dieser Zeit hatte das Siegerland nur 85.000 Einwohner, etwa ein Drittel der heutigen Einwohnerzahl. Um diese enorme Anzahl zu verarbeiten, benötigte man etwa 15.000 Tonnen getrocknete Eichenrinde, eine riesige Menge, im Werte von 1 ½ bis 2 Millionen Mark. Dies waren, was einem unvorstellbar erscheint, 7.500.000 Eichenstämme die manuell geschält wurden. Erwirtschaftet hatte man hiervon ca. 2.800 Tonnen Sohlleder im Wert von 7.750.000 Mark. Aus dem vielen Lohabfall entstand begehrtes und billiges Heizmaterial. Es waren die sogenannten Lohkuchen, die in 20 x 20 x 8 cm große Formen gepresst und danach getrocknet wurden. Diese Lohkuchen waren bei dem ständigen Holzmangel, der seinerzeit im Siegerland herrschte, sehr begehrt. Die günstigsten Ertragsjahre waren von 1852 bis 1873. In dieser Zeit wurden nicht unbedeutende Vermögen erworben, selbst die Haubergsbesitzer hatten eine glänzende Rente. Das Siegerländer Sohlleder hatte eine führende Stelle auf dem deutschen Ledermarkt und erzielte dank seiner sehr guten Qualität die höchsten Preise. Absatzgebiet war das ganze Deutsche Reich, besonders Mittel- und Norddeutschland bis hin nach Tilsit an der Memel. Auch der Rückgang der Messen, auf denen seiner Zeit ein Teil der Produktion abgesetzt worden war, wurde leicht verkraftet, denn es hatte sich eine feste Kundschaft gebildet.
Die größten und sichersten Abnehmerrinnen waren die preußische und die sächsische Heeresverwaltung sowie die Reichsmarineverwaltung. Das Leder war hervorragend für Militärstiefel geeignet. Man wollte nicht den Fehler machen wie andere Länder, dass ganze Armeen im Winter wegen jämmerlichem Schuhwerk kampfunfähig wurden. Die Heeresverwaltungen hatten dies längst erkannt und hielten an dem Siegerländer Leder fest. Unter anderem wurde folgende Aussage gemacht: ,,Und wenn unsere Söhne wieder unseren Wünschen einmal sollten mit dem Gewehr auf der Schulter an die Grenze ziehen müssen, zur Verteidigung von Vaterland und Heimat, so mögen sie sich freuen auf Siegerländer Sohlen trockenen Fußes in Feindesland zu gelangen’’. Auch der Siegerländer Ausspruch, der nur noch bei sehr wenigen im Sprachgebrauch ist: ,,Haut sie, dass die Lappen fliegen,“ stammt aus dieser Zeit. Lappen sind in Alt-Siegerländer Mundart Stiefelsohlen. Die Siegerländer Hauberge, die seinerzeit 77% der Waldfläche betrugen, lieferten die Eichenrinde in großen Mengen und hervorragender Güte. Es reichte aber bei weitem nicht und so mussten die benachbarten Kreise, Gebiete an der Mosel, die Ardennen und Waldgebiete aus Ungarn noch Lohe liefern.
Tüchtige Lohschäler erreichten, wenn der Saft in die Eichenstämme gestiegen war, bei günstiger feuchtwarmer Witterung, eine Tagesleistung von ungefähr 100 kg Lohe. Dies war etwa die Rinde von 50 Haubergseichen, die geschält werden mussten und ca. 7 kg Gerbstoff erbrachten. Die getrockneten Lohröhren wurden zu je 15 Stück mit 5 bis 6 Reisern zu Lohbürden, die ein Gewicht von gut 30 kg hatten, zusammen gebunden.
Bei solch einer rasanten Entwicklung blieb das Zunftwesen auf der Strecke. Das Handwerk war zur Industrie geworden. Wenn auch Klein- und Mittelbetriebe noch in der Überzahl waren, so entstanden auch größere Fabriken in Hilchenbach und Freudenberg. Mit die größte ist in Hilchenbach entstanden. Sie wurde 1993, wie oben erwähnt, als letzte dem Erdboden gleich gemacht. Auf dem Gelände ist u. a. ein Einkaufszentrum entstanden mit Namen Gerber - Park.
Das große Dilemma für die Siegerländer Lederindustrie kam bereits vor der Jahrhundertwende mit dem Quebrachoholz. Es ist eine Südamerikanische Baumart mit hartem gerbreichem Holz. Es war der große Gegenspieler zur Eichenrinde und kam in Norddeutschland immer mehr zum Einsatz.. Das hiermit gegerbte Leder, was besonders in Norddeutschland und an der Küste zum Einsatz kam, hatte längst nicht die Qualität wie das Siegerländer Leder, dafür war es aber billiger und viel schneller gegerbt.
Auch die Chemie brachte einen künstlichen Gerbstoff auf den Markt. Weiterhin kam mit der Industrialisierung auch die Modernisierung. An verschiedenen Standorten in Deutschland wurden neue Betriebe errichtet. Eine Überproduktion entstand und die Preise rutschten in den Keller. Somit begann schon um die Jahrhundertwende ein Überlebungskampf der Siegerländer Lederindustrie. Viele Betriebe mussten bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts ihre Tore schließen, oder wurden zusammen gelegt. Manche stiegen auch mit ihrem Kapital in andere lohnendere Geschäfte, z. B. die Eisenindustrie oder den Bergbau ein. Die Zahl der Betriebe war 1912 auf mehr als ¼ (18 Stück) zusammen geschrumpft und die verarbeitenden Häute auf 79.000 zurückgegangen. Hiezu wurden immerhin noch 8 Millionen kg Lohe benötigt um das Leder herzustellen, wesentlich mehr wie das Siegerland liefern konnte.
Welch hohes Ansehen die Siegerländer Lederindustrie einst hatte soll eine Begebenheit aufzeichnen. Als am 12. Dezember 1891 Vertreter der Stadt Siegen dem Fürsten Bismarck den Ehrenbürgerbrief ihrer Stadt überreichten, äußerte Bismarck: ,,Am Himmel der Industrie bildet das Siegener Land ein helles Sternbild! In Eisen und Leder pflegt es zwei für die Wehrkraft besonders hervorragende Industrien!“
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