Ostpreußen

Siegerländer zogen nach Ostpreußen

Mathilde wusste wirklich nicht, was das alles bedeuten sollte. Da wurden jede Menge Kisten gepackt und viel Hausrat wurde auf die schweren, großen Wagen geladen. Fritz, der große Bruder wusste bestimmt, weswegen die Unruhe war. Sie hätte ihn gerne gefragt, aber er musste dem Vater helfen. Nur einmal sagte er, dass es ganz weit fort ginge nach Ostpreußen.

Ostpreußen lag doch hinter dem Kindelsberg und noch ein ganz langes Stück weiter dachte Mathilde. Dort würde sie dann mit Vater, Mutter, Fritz und den anderen Leuten, die mitfahren, wohnen. Ob es da auch so hohe Berge gäbe wie hier, wo man die Kühe mit den Schellen weidete und man im Sommer so feine Beeren sammeln

Boris Dmitriewitsch Faltin um 1715 - Er diente genau wie sein Bruder Iwan in der 6. Smolensk Kompanie (Bild: Google - Die Familie Faltin)

könnte wie bei uns. Mathilde machte sich viele Gedanken.

Da nahm die Mutter sich etwas Zeit für ihr Töchterchen mit seinen vielen, vielen Fragen. Wir reisen morgen ab, Mathilde, nach Ostpreußen. Dann erzählte sie ihr von dem Leid, das sie hier erlebt hatten und deswegen wäre der Entschluss gekommen, nach Ostpreußen auszuwandern. Sie konnte es kaum erwarten bis es endlich losginge. Alles dachte sie sich sehr schön aus und ahnte nichts von den Qualen der Großen. Sie sah nur das Fremde und Neue. Als die Mutter sie im schwankenden Wagen auf den Arm nahm und von dem bösen Fürsten mit dem lieblichen Namen Hyazinth erzählte, hörte sie doch zu. Wenn sie auch längst nicht alles verstand, merkte sie doch, dass Ostpreußen viel, viel weiter entfernt war als sie es geglaubt hatte.

Als dein Bruder Fritz geboren wurde regierte in den Ämtern Wilnsdorf, Netphen und ein großer Teil vom Amt Weidenau der grausame Fürst Hyazinth. Er war ein böser Feind von uns Reformierten und wollte uns alle wieder katholisch machen. Aber auch seine katholischen Untertanen litten unter

Smolensk Ostpreußen Anfang des 17. Jahrhunderts (Bild: Google - Die Familie Faltin)

seiner Herrschaft, denn er forderte zehnmal mehr Steuern als sein Vater. Er lebte verschwenderisch und war eitel. Zu einer Vergnügungsreise nach den Niederlanden brauchte er wieder Geld. Da begannen seine Untertanen in Weidenau sich offen zur Wehr zu setzen. Sie weigerten sich die ungerechten Steuern zu bezahlen. Sofort ließ er den Vorsteher und einige andere Rädelsführer ins Gefängnis werfen. Als er später erneut versuchte Geld gewaltsam einzutreiben, rottete das Volk sich zusammen. Zum oberen Schloss nach Siegen zogen 600 Mann, um die Gefangenen zu befreien. Der Fürst ließ auf die Männer schießen. Von den dreien, die schwer verwundet wurden, starb einer. Ja, Mathildchen so schrecklich ging es damals im Siegerland zu. Deswegen hatten wir uns auch für den mühsamen Weg nach Ostpreußen entschieden.

Das Kind sah alles vor sich. Die Mutter erzählte ihr auch von der ganz schlimmen Geschichte und zwar von der Enthauptung des ehrlichen und tapferen Friedrich Flender aus Weidenau vor der Haardt, den sie einen Rädelsführer nannten. Dieses geschah alles ohne ein gerichtliches Verhör. Die Grausamkeit war nicht mehr zu überbieten, denn sie steckten den Kopf auf einem Spies auf dem Krebs zur Schau.

Friedrich Flender schrieb an seinem Todestag am 29. März 1707 noch einen berühmt gewordenen Brief an seine Frau. Flender war ein wahrer Christ. So schrieb er unter anderem, „dass mich doch noch bis zum letzten Augenblick Gottes und Ihrer Hoheit Gnade vertröste." Ihm zu Ehren gibt es in Siegen/Weidenau

Eisenbahnbrücken in Allenstein Ostpreußen auf einer Postkarte

die Friedrich-Flender-Sc hule. Der Unmensch Wilhelm Hyazinth wurde wegen dieser Grausamkeit als Fürst von Oranien vom Kaiser abgesetzt und aus Siegen verjagt. Doch die Unterdrückung der Reformierten ging weiter.

Da wurde die Mutter wegen eines gebrochenen Wagenrades bei ihrer Erzählung plötzlich unterbrochen. Der ganze Zug musste halten bis die Männer den Schaden beseitigt hatten. Da ging Mathilde zu ihrem Vater und wollte wissen wann sie endlich da wären. Ich wusste es selbst nicht, aber es dauerte bestimmt noch viele Wochen mein Kind. Falte oft deine Händchen und bete zu Gott, dass wir unser Ziel bald und sicher erreichen werden. Er konnte sich nicht groß um sie kümmern, denn er musste die Pferde und die Wagen beobachten. Aber auch, dass nicht Räuber plötzlich aus dem Gebüsch kamen und sie überfielen.

Mathilde hörte nicht mehr die Worte der Mutter, sie war längst eingeschlafen als es spät abends weiterging. Sie hatte es aber verstanden, dass ihre Eltern jedes Jahr

Königsberg in Ostpreußen war schon sehr früh eine jüdische Gemeinde (Postkarte)

neuen Kummer und neues Leid ertragen mussten. Damit diese Gräueltaten der preußische Gesandte im Erzbistum Köln erfahre wurde alles von einem kaiserlichen Notar in Siegen festgehalten. Auch gingen reformierte Siegerländer zum Preußenkönig und erzählten ihm von ihrer Not. Land in Ostpreußen hatte uns der Soldatenkönig versprochen. Obwohl die Wagen in den holprigen Hohlwegen hin und her rumpelten war Mathildchen ganz fest eingeschlafen. Erst als zum Mittag Rast gemacht wurde wachte sie wieder auf.

Auch Schweizer zogen wegen ihres Glaubens in dies fremde Land nach Ostpreußen. Der König hatte bestimmt, dass von nun an nur noch tüchtige Bauern kommen dürften. Den König wollten wir nicht enttäuschen. Sie sollten die vom Krieg und der Pest verlassenen Häuser und Dörfer wieder herrichten. Aber auch die verwüsteten Felder sollten sie wieder fruchtbar machen, dafür bekamen sie das

Ostpreußen war früher die östlichste Kirchenprovinz Preußens. Hauptstadt war Königsberg (heute Kaliningrad) - Karte aus dem Evangelischen Zentralarchiv Berlin

Land und die Häuser geschenkt. Futter für das Vieh und Mehl für die Menschen musste unterwegs gekauft werden, was sehr teuer war. Aus Wochen wurden Monate und der Weg war schier endlos lang. Im Sommer des Jahres 1715 erreichten sie endlich ihre neue Heimat.

Die schon vorher ausgewanderten Menschen standen zum Empfang bereit. Sie hatten finstere Gesichter und sahen nicht wie glückliche Menschen aus. Sie jammerten und stöhnten und berichteten von den Unterdrückungen durch die adeligen Beamten. Da stand Mathildes Vater auf. Er war ein großer und starker Mann mit tiefer und lauter Stimme. „Wir müssen zusammen halten und standfest bleiben, Freunde! Die Söhne adliger Gutsherren dürften uns nicht zu unserem Schaden richten. In Leibeigenschaft gehen wir niemals. Sie können uns die vom König zugesicherte Freiheit nicht entreißen! Bleibt Fest! Freunde! Bleibt fest!" Mathilde war stolz auf ihren Vater, dem alle zujubelten. Die Bauern von Ostpreußen waren noch hörig und die Siegerländer sollten es auch werden. Wenn wir wie unser Vater alle dagegen sind, schaffen es die herrischen Adeligen nicht.

Hart war die Arbeit und zwar vom Aufgang

Hochmeistersitz des Deutschen Ordens in Preußen, die Ordensburg Marienburg (Der Hexer derivate work: Carschten - Eigenes Werk)

der Sonne bis zu ihrem Untergang. Auch das kleine Mädchen musste schon mit anfassen. Im Laufe der Zeit begriff es auch den Sinn des Lebens in diesem Land. Immer wieder versuchten die Herren die Eingewanderten zu bedrängen und wollten ihnen neue Lasten aufbürden. Doch Mathildes Vater, der zum Führer der Siegerländer geworden war, blieb felsenfest und ging keinen Schritt zurück. An ihm richteten sich die anderen immer von neuem auf. Seine Standfestigkeit trug den Sieg davon. Dabei waren viele Jahre vergangen. Aus Mathilde war eine stattliche Frau geworden und aus ihrem Vater ein Greis der immer noch aufrecht dahin schritt und um alles in der Welt nicht bereit war einen Meter zurück zu gehen. Seine Ahnen hatten vor 150 Jahren die Befreiung von der Leibeigenschaft erhalten. Sie, die

Siegen um 1655 - Auszug aus der Topographia Hassiae - Urheber: Matthäus Merian

Nachkommen, müssen dieses kostbare Gut mit aller Gewalt erhalten.

Als Mathilde zum Traualtar geführt wurde, läuteten alle Glocken im Land. Sie kündeten aber nicht nur von ihrem persönlichen Glück. Sie sollten allen in der Siedlung kundtun, dass der König sich zu Gunsten der Siegerländer entschieden hatte. Die alle Freiheiten bekommen sollten. Da faltete Mathilde die Hände und sank auf die Knie. Sie dachte zurück an die Zeit vor 17 Jahren, an alles Leid, das war und nun vorbei sein sollte. „Der Herr hatte alles wohl gemacht. Ihm sei Lob und Preis und Dank!"

 

 

Literaturnachweis :
Emil Meinhardt : Siegerländer Auswanderer in Ostpreußen 
Albrecht Heider : Die kirchlichen Verhältnisse des Siegerlandes
www.lagis-hessen : Hessische Biografie
Google : Siegen pulsiert

 

 

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